Spinnleistung, Arbeitspensum in der Wollverarbeitung früher

Allgemeines zum Thema Spinnen (Spinnfasertypen, geschichtliches, ...)

Moderator: Claudi

Asherra
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Re: Spinnleistung, Arbeitspensum in der Wollverarbeitung früher

Beitrag von Asherra » 10.08.2011, 12:44

Die spinnen alle drei Langflachs. Flachs und Wolle läßt sich von der Technik her so schwer vergleichen wie Wolle und Baumwolle.
Daß der Faden vom Faservorrat zur Spindel nicht gerade läuft hat Effizienzgründe. Die Frauen spinnen sehr lange am Stück. Wenn der Faden zwischen den Händen einen "Knick" macht bleibt der Drall an dieser Stelle stehen und man hat eine viel feinere Kontrolle über das Ausziehen und wieviel Drall wann in die Faser kommt. Und das OHNE daß man sich die Finger müde drückt wie wenn man versucht, den Drall in einem geraden Verlauf zurück zu halten.
Auch die peruanischen Spinnerinnen ziehen vor dem Körper in ganz relaxter Haltung waagerecht aus und die Spindel hängt dann seitlich runter (weitgehend unbeachtet, bis sie zum Aufwickeln wieder gebraucht wird).

Stöckchen ohne Wirtel, die in der Hand oder einer Schüssel gedreht werden sind laut Barber in Kulturen verbreitet, die traditionell kurze, glatte Fasern verarbeiten. Bei allen anderen ist langer Auszug einfach nicht "normal". So ein Ohrenburgspindelchen ist ja auch nicht dazu da, den nächsten Wollmantel zu produzieren sondern aus ganz feinen Fasern, ganz feines Garn für ganz feine Spitze herzustellen, ein Luxusprodukt.
Frau hatte früher ja auch nicht nur eine Spindel für alles. In Grabungen von Häusern finden sich Dutzende, manchmal Hunderte von Spinnwirteln. Manche sind geschickterweise gleich so gemacht, daß man die Spindel direkt als Webschiffchen für den Gewichtswebstuhl verwenden und man sich das Abwickeln sparen kann.

Insgesamt war es wahrscheinlich auch vor dem Beginn der industriellen Revolution nicht notwendig, super-effizient zu sein. Ein Satz Sommerkleider, ein Satz Winterkleider, eine Satz für Festtage, mehr hatten die Leute meist gar nicht, wozu auch? Und wenn es dann drei Jahre dauert bis das feine Leinen für ein neues Festtagshemd gewonnen, gesponnen, gewebt, genäht und verziert ist, was soll's? Es wechselte ja nicht alle 3 Monate die Mode und der komplette Kleiderschrankinhalt mußte raus.

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Re: Spinnleistung, Arbeitspensum in der Wollverarbeitung früher

Beitrag von shorty » 10.08.2011, 12:51

Den Materialsaspekt hatte ich noch ganz ausser acht gelassen, danke Asherra
fürs drauf stoßen.
Karin
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Re: Spinnleistung, Arbeitspensum in der Wollverarbeitung früher

Beitrag von Tulipan » 10.08.2011, 13:25

Stimmt, das mit der french ist Definitionssache. Ich meine ein Spindel, die in der Hand gedreht und nicht aufgesetzt wird. In Kroatien habe ich welche gesehen, die keine Rinne hatten und auf youtube gibts ein Video (ich finds nur grad nicht) mit einer portugiesischen, die glaube ich ohne Rinne war.
Aber da eine Hand immer am Rocken ist und auszieht, ist es ja kein echter langer Auszug, sondern mehr so ein Mittelding (den letzten Satz habe ich jetzt nur zögerlich geschrieben, ich weiss, dass das dein Thema ist Karin ;) )

Worauf ich hinaus will ist, dass die heute von Hobbyspindlerinnen verwendeten Techniken nicht mit dem übereinstimmen, was in Europa über Jahrhunderte praktiziert wurde. Die Art, wie wir heute mit der Tiefwirtelspindel spinnen, finde ich eher in den Anden.

Und mir ist auch klar, dass die Technik nicht effizient ist, mir fällt nur immer wieder auf, dass sie sehr häufig dargestellt wird und darum recht verbreitet gewesen sein muss.
@ Klara: Barber schreibt ja, dass die Frauen so mit der Herstellung des Lebensnotwendigen beschäftigt waren, das sie schlicht keine Ressourcen hatten, über effizientere Lösungen nachzudenken.
Der ständige Drang, etwas zu verbessern, ist wohl auch eher ein moderne Entwicklung. Wir kennen und wissen heute ja auch viel mehr.

lG
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Re: Spinnleistung, Arbeitspensum in der Wollverarbeitung früher

Beitrag von Klara » 10.08.2011, 19:21

Dass man nicht von selber draufkommt, kann ich ja noch nachvollziehen. Aber dass z. B. kein einziger Kreuzfahrer oder Pilger eine Hochwirtelspindel aus dem Orient mitgebracht hat wundert mich einfach... Oder dass in französischen Ausgrabungen (oder auch einfach im Acker rumliegend) Spinnwirtel gefunden werden - auch hier in der Gegend! - die aber bis zum 19. Jh. (wie lange es die "ti" schon gibt, weiss ich auch nicht) oder auch schon früher verschwunden sind.

Was das Spinnen mit dem Stöckchen angeht: Hentschel hat die Abbildung eines serbischen Mädchens das mit Stöckchen spinnt und Wolle auf dem Rocken hat (schreibt er, und so sieht's auch aus für mich). Wie die Frau in Botiza spinnt (Tulipans dritter Link) wissen wir ja nicht - auf dem Foto wickelt sie auf, würde ich sagen.

Was die Kleidungsmenge angeht: Irgendwo (mir fällt auch nicht annähernd ein, wo - eventuell was im Zusammenhang mit bayrischen Bauern) habe ich eine Kleidungsliste gesehen (für Landarbeiter oder ähnliches) die überraschend umfangreich war (so im Stil von: 6 Alltagshemden für den Winter und 6 in Sommerqualität und je ein Sonntagshemd, dazu Hosen, etc.) und im Kommentar mit dem seltenen Waschen (war's einmal im Jahr?) erklärt wurde.

Und wie Thomas geschrieben hat, Handel gibt's schon lange. In der Bretagne wurden z. B. Schiffsegel aus Hanf fabriziert, sowie feinste Tücher, die in die spanischen Kolonien verkauft wurden (weil sie sich hier kaum jemand leisten konnte). Ich würde schon denken, dass es da auf jeden Meter mehr ankam, den man pro Stunde produzieren konnte.

Und persönlich macht mich ineffizientes Arbeiten einfach kribbelig... (weshalb ich übrigens auch die Navajo-Spindeln wieder weggelegt habe - die Teile sind auch Beweis für eine Kultur, die gaaaanz viel Zeit hat...)

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Re: Spinnleistung, Arbeitspensum in der Wollverarbeitung früher

Beitrag von Tulipan » 10.08.2011, 20:16

in meinem dritten link tippe ich auf Wolle. Jedenfalls habe ich ein sehr ähnliches Foto aus der gleichen Gegend, bei dem die Frau die Spindel in der Hand hält und definitiv Wolle auf dem Rocken hat.
Das mit der Hochwirtelspindel ist mir auch ein Rätsel, zumal sie ja die logische Fortsetzung des auf dem Oberschenkel gerollten Spinnstocks ist.

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Re: Spinnleistung, Arbeitspensum in der Wollverarbeitung früher

Beitrag von Tulipan » 26.08.2011, 11:05

Ich habe mal ausprobiert vom Rocken zu spinnen und hatte plötzlich eine Problem :eek: : eine Hochwirtelspindel verträgt sich nicht mit einem feststehenden Rocken! Wenn der Rocken links von mir steht und ich auf dem rechten Oberschenkel abrollen möchte, brauche ich einen langen und sehr genau bemessenen Leader und kann auch nicht wirklich mit Schwung abrollen. Außerdem ist die Spindel dann schon ziemlich nahe am Boden. Eine Tiefwirtelspindel kann ich in jeder Position andrehen.
Jetzt könnte man natürlich die Frage diskutieren warum der Rocken in Europa so verbreitet war :D

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Re: Spinnleistung, Arbeitspensum in der Wollverarbeitung früher

Beitrag von Klara » 26.08.2011, 12:49

Eine Spindel - egal welche Form - wurde bestimmt nicht mit einem feststehenden Rocken verwendet! Sondern immer mit einem tragbaren, d. h. in der Regel wohl in den Gürtel gesteckten. Und der passt durchaus zu einer Hochwirtelspindel, überhaupt kein Problem, schon probiert.

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Re: Spinnleistung, Arbeitspensum in der Wollverarbeitung früher

Beitrag von kaha » 26.08.2011, 12:59

Tulipan hat geschrieben:Eine Tiefwirtelspindel kann ich in jeder Position andrehen.
Kannst Du doch bei einer Kopfspindel auch. Also ich zumindest mach das auch. Musst ja nicht unbedingt am Oberschenkel anrollen, sondern erst mal bisschen Drall so draufgeben wie bei Fußspindel.

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Re: Spinnleistung, Arbeitspensum in der Wollverarbeitung früher

Beitrag von Tulipan » 26.08.2011, 22:04

Klara hat geschrieben:Eine Spindel - egal welche Form - wurde bestimmt nicht mit einem feststehenden Rocken verwendet!
Das stimmt nicht:
http://www.spwhsl.com/ISS_40/DETAIL40.HTM
http://jevcat.files.wordpress.com/2011/ ... nation.jpg.
Leider finde ich jetzt kein Bild, aber irgendwo in Russland waren Rocken aus L-förmigen Brettern üblich, die auf die Bank gestellt wurden. Zur Fixierung hat man sich auf das untere Ende draufgesetzt.

@ kaha
Natürlich kann ich eine Kopfspindel auch mit den Fingern andrehen, dann ist sie aber auch nicht schneller als die Tiefwirtelspindel. Es geht hier ja um die Effizienz.

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Re: Spinnleistung, Arbeitspensum in der Wollverarbeitung früher

Beitrag von shorty » 26.08.2011, 23:47

In dem Wocken /Rocken Zusammenhang ist mir dieser link wieder eingefallen aus Serbien mit den alten Frauen :
http://www.youtube.com/watch?v=V2iY4VFDiZI&translated=1

Karin
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Re: Spinnleistung, Arbeitspensum in der Wollverarbeitung früher

Beitrag von kaha » 27.08.2011, 12:36

Tulipan hat geschrieben: @ kaha
Natürlich kann ich eine Kopfspindel auch mit den Fingern andrehen, dann ist sie aber auch nicht schneller als die Tiefwirtelspindel. Es geht hier ja um die Effizienz.
Na klar ist sie dann schneller, da Du im Weiteren dann wieder den Oberschenkel nimmst. Du umgehst das Problem des laaangen Leaders nur, indem Du temporär auf die geringere Geschwindigkeit ausweichst.
Im Übrigen glaube ich nicht mal, dass es wirklich so viel Unterschied gibt zwischen einer Kopfspindel und einer Fußspindel, die zwischen den Handflächen angedreht wird (s. Spinner in Peru).

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Re: Spinnleistung, Arbeitspensum in der Wollverarbeitung früher

Beitrag von Klara » 27.08.2011, 15:06

Tatsächlich, hätte ich nicht gedacht - da ist ja der halbe Witz der Kopfspindel - die Mobilität - weg. Und was mir bei den Bildern noch auffällt: Die Nonne und mindestens eine der slowakischen Spinnerinnen haben gar keinen Wirtel an der Spindel! Damit ist sie dann auch mit ziemlicher Sicherheit nicht schneller als ein Spinnrad (ich hab' so eine wirtellose Fallspindel auf Video - das Zuschauen tut weh) und dann wirklich nur das Spinnwerkzeug der armen Leute.

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Re: Spinnleistung, Arbeitspensum in der Wollverarbeitung früher

Beitrag von kaha » 27.08.2011, 17:45

Naja, wenn mal schon ein Batzen Wolle drauf ist, kann die ja als Schwungmasse dienen. Vllt geht das dann ganz akzeptabel?

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Re: Spinnleistung, Arbeitspensum in der Wollverarbeitung früher

Beitrag von Tulipan » 04.09.2011, 16:56

Aus dem Urlaub in Italien habe ich mir ein paar Spinnbegriffe mitgebracht und mal gegoogelt. Es gab sehr wohl Hochwirtelspindeln in Europa, nämlich die Balkanspindel. Wie man hier sieht, war sie auch in Italien bekannt und wurde mit einem Handrocken verwendet:

http://www.ischia.it/new/photogallery/1 ... age127.jpg
http://www.icsansperatorc.it/Download%2 ... e/lana.htm


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Re: Spinnleistung, Arbeitspensum in der Wollverarbeitung früher

Beitrag von Klara » 04.09.2011, 19:53

Interessant, danke! Jetzt frage ich mich natürlich wieder, wieso das Teil nicht über die Alpen gekommen ist...

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