Der "Brautschatz"

Allgemeines zum Thema Spinnen (Spinnfasertypen, geschichtliches, ...)

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Anna
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Re: Der "Brautschatz"

Beitrag von Anna » 28.06.2014, 16:41

Traurig ist nicht, dass sie keinen hat, sondern dass sie traurig ist, dass sie keinen hat.

Im übrigen enthält das Gedicht noch viel mehr Ebenen als diese eine. Im Blauen Salon (oben verlinkt) hat man mich darauf aufmerksam gemacht, dass die Traurigkeit auch von etwas anderem herrühren kann als bloß daher, dass kein Bräutigam in Sicht ist - die Spinnerin ist auf viel allgemeinere Weise einsam.
Aus dem Gedicht geht nicht mal zwingend hervor, dass die Spinnerin selbst ein heiratswilliges Mädchen ist. Es könnte auch sein (spricht sogar einiges dafür), dass sie schon weit älter ist, da es heißt "sind lustig die Mädchen", als ob sie gar nicht dazugehörte. Vielleicht ist sie Witwe oder "alte Jungfer", spinnt, weil sie es halt so gewohnt ist, hat aber letztlich für das Gesponnene keine Verwendung ...
Rein literarisch kann man aus dem Gedicht viel, viel mehr interpretieren, wenn man sich ein wenig hineinvertieft.
"Wenn ich mich vor solchen Kerlen fürchte, kann ich mein Langschwert gleich gegen Stricknadeln eintauschen." (Brienne)

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Re: Der "Brautschatz"

Beitrag von Klara » 29.06.2014, 19:00

Ich hatte bloss schon im Deutschunterricht oft das Gefühl, dass man viel mehr in Texte reininterpretiert als der Autor geschrieben hat. Ich nehme Texte so, wie sie dastehen.

Ciao, Klara

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Anna
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Re: Der "Brautschatz"

Beitrag von Anna » 30.06.2014, 00:52

Ja, genau das tue ich ja auch. Auf den ersten Blick scheint jeder anzunehmen, die Sprecherin sei ein junges Mädchen, das keinen Bräutigam abgekriegt hat. Als meine Tochter im letzten Winter das Lied im Rahmen eines Gesangsprogramms gesungen hat, wurde auch diese Interpretation einfach vorausgesetzt (in unmittelbarem Anschluss daran hatte sie eine Kontaktanzeige zu sprechen). Dabei steht das gar nicht in dem Text. Die Spinnerin hat niemanden, der mit ihr redet, aber sie sagt nirgends ausdrücklich, dass sie sich nach einem Mann sehnt. Sie hat nicht das Glück der anderen jungen Mädchen, deren Hochzeit bevorsteht, aber das heißt ja nicht, dass sie auch ein junges Mädchen wäre. Vielleicht hat sie das alles schon hinter sich und denkt mit Wehmut an die ihre eigene Brautzeit. Sie ist allein und ihre Arbeit ist nutzlos - das und sonst nichts ist das Fazit des Gedichts.
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Re: Der "Brautschatz"

Beitrag von Klara » 30.06.2014, 19:28

Na, wenn sie sich nutzlose Arbeit macht, ist sie selbst schuld, da kann ich ihr auch nicht helfen - und habe auch ganz bestimmt kein Mitgefühl. Aber ich glaub' es auch nicht: Ich bin überzeugt, dass vor Waschmaschine, Staubsauger, Kühlschrank etc. schlicht viel zu viel zu tun war als dass man gesponnen hätte, wenn es für das Garn keinen Abnehmer gab. Ich gehe davon aus dass entweder für Eigenbedarf gesponnen wurde, oder für Geld - oder man hat etwas anderes gemacht ((ein)kochen, fegen, waschen, Hühner füttern, Socken stopfen...) (mal abgesehen davon - als in der Stadt lebender männlicher Schriftsteller finde ich Paul Heyse nicht besonoders gut qualifiziert um mir die Gedanken einer dörflichen Spinnerin egal welchen Alters nahezubringen).

Zum allgemeineren Thema, was wurde wann und wo gesponnen, habe ich heute mal meinen inzwischen 81-jähren Papa gefragt. Seine Mutter hatte zwar Spinnrad und Webstuhl im Haus (vor dem Umzug 1940), er kann sich aber nicht erinnern, das Spinnrad je in Aktion gesehen zu haben, auch nicht im Krieg (wo hier in Frankreich die Spinnräder angeblich wieder vom Dachboden geholt wurden). Der Webstuhl diente wohl ein bisschen zum Weben von Fleckerlteppichen (aber nicht denen, die ich später im Haus der Grosseltern gesehen habe, die waren gekauft) - Papa meinte, seine Anwesenheit sei wohl mehr auf ein Zurück-zur-Natur-Denken des Opas (von Beruf Lehrer) zurückzuführen gewesen als auf echten Bedarf. Und ganz bestimmt wurde keine Schafwolle verarbeitet, weil's im ganzen Dorf (Reithofen, später Tuntenhausen) während des Kriegs keine Schafe gab. Die wurden erst später "Mode". (Ich erinnere mich, dass Opa Ende der 60er/Anfang der 70er eine kleine Herde hatte, die als Felle auf Boden und Sofa geendet hat. An ein Spinnrad kann ich mich nicht erinnern.) Traditionell hatten die Bauern in der Gegend nur Schweine und Rinder.

Ciao, Klara

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Re: Der "Brautschatz"

Beitrag von Petzi » 30.06.2014, 20:27

Klara hat geschrieben:) (mal abgesehen davon - als in der Stadt lebender männlicher Schriftsteller finde ich Paul Heyse nicht besonoders gut qualifiziert um mir die Gedanken einer dörflichen Spinnerin egal welchen Alters nahezubringen).
Für mich ist ein guter Schriftsteller, einer der meine Gedanken und meine Phantasie anregen kann, egal ob aus Stadt oder Land, egal ob er fundiertes Wissen hat oder einfach seiner eigenen Phantasie entsprungene Gedanken zu Papier bringt.
Ich finde es einfach schön, welche Vorstellungen Anna bei dem Lied/Gedicht hat und denke man muß nicht alles
wissenschaftlich belegen können.

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Re: Der "Brautschatz"

Beitrag von Anna » 30.06.2014, 20:48

schlicht viel zu viel zu tun war als dass man gesponnen hätte, wenn es für das Garn keinen Abnehmer gab
Abnehmer mag es ja geben. Aber eben nicht in dem Sinn, wie sie es bei den jungen Mädchen in den Spinnstuben beobachtet.
Die Interpretation ist ohnehin nicht zwingend. Aber es spricht auch nichts dagegen.
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Re: Der "Brautschatz"

Beitrag von shorty » 30.06.2014, 20:52

Was versponnen wurde lässt sich glaub ich pauschal nicht beantworten, hier gabs Schafe auch im Krieg und es wurde aktiv bis in die 80 er Jahre gewebt auf alten Webstühlen. Kenne die Weberfamilie, die Webstühle stehen nun auf der Glentleiten....
Meine Oma hat sich extra zum spinnen ein Spinnrad machen lassen... wurde auch aktiv benutzt....
Ganz gleich, wie beschwerlich das Gestern war, stets kannst du im Heute von Neuem beginnen.

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